»La Dolce Vita« und Bad Kissingen
Italien ist schon seit Jahrhunderten ein beliebtes Ziel für Schwärmerei, für »Träume vom süßen Leben«, für Unbeschwertheit in einer anregenden Umgebung. Es hat viele große und kleine Geister über die Alpen in den Süden gezogen, nicht nur Johann Wolfgang von Goethe – über dessen »Italienische Reise« man in Weimar schon heftig diskutierte, als er noch unterwegs war – oder Heinrich Heine, der 1830 seine »Reise von München nach Genua« schrieb, die beide stilbildend wurden. Franz Liszt verarbeitete seine Italieneindrücke unter anderem in seinen »Années de pèlerinage« und Felix Mendelssohn-Bartholdy komponierte Teile seiner »Italienischen Symphonie« in Neapel. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass wir Deutschen uns in Scharen in vollgepackte Käfer gezwängt haben, um über den Brenner ins »gelobte Land« zu fahren und dort zu lernen, dass man Spaghetti nicht mit Messer und Gabel isst.
Das Mutterland der europäischen Musik
Der Zug nach Süden mag im touristischen Bereich inzwischen eine Gegenbewegung ausgelöst haben. Doch musikalisch war und ist die geistige Befruchtung immer eine Einbahnstraße. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Italien als Mutterland der europäischen Musik gilt.
Spätestens als sich die Musik aus dem kirchlichen Rahmen hinaus in die Weltlichkeit der Oper löste, war es für junge Komponisten in Deutschland der größte Wunsch, von ihren Fürsten ein Stipendium für ein Studium in Bologna oder Venedig zu bekommen. Georg Friedrich Händel oder Johann Adolph Hasse waren berühmte Beispiele. Aber in der Gegenrichtung? Antonio Vivaldi zog nach Wien, wo er völlig vereinsamt starb. Das Leipziger Konservatorium war im 18. und 19. Jahrhundert eine bedeutende Studienadresse, sein Einzugsbereich aber der Norden Europas.
Anziehungskraft auf Künstler
Wer heute an Bad Kissingen und Italien denkt, der denkt zunächst nicht sofort an Musik. Denn für Aufmerksamkeit sorgte im vergangenen Jahr die Erhebung des Kurorts zum UNESCO-Welterbe, gemeinsam mit dem italienischen Montecatini Terme und neun weiteren Heilbädern, den »Great Spa Towns of Europe«. Das ermöglicht einen reizvollen Vergleich, denn die beiden Kurorte waren stets zur gleichen Zeit vor ähnliche Herausforderungen gestellt. Gemeinsam hatten sie eine starke Anziehungskraft auf die Künstler, vor allem auf Dichter und Komponisten. Allerdings kamen die aus entgegengesetzten Richtungen. In Kissingen konnte man etwa russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts wie Michail Glinka oder Alexander Glasunow ebenso begegnen wie später Alfred Schnittke oder unserer Zeitgenossin Sofia Gubaidulina. Ihre italienischen Kollegen waren und sind heimatverbundener.
Sie fühlten sich in Montecatini am wohlsten. Giuseppe Verdi etwa residierte in den letzten 20 Jahren seines Lebens jeden Sommer im Grand Hotel Plaza & Locanda Maggiore. Und auch Giacomo Puccini oder später Luciano Berio schätzten nicht nur die Quellen. Ruggiero Leoncavallo starb sogar bei seiner letzten Kur im Badeort. Man denkt vielleicht auch an die Städtepartnerschaft mit dem toskanischen Massa, an die Gebrüder Bolzano, die als erste private Badpächter die Entwicklung Kissingens zum Weltbad angestoßen haben und aus dem oberitalienischen Como stammten, wo auch der Psychiater, Schriftsteller und Hotelier-Sohn Oskar Panizza seine Wurzeln hatte.
Wer jedoch in den Anmeldelisten nach Kurgästen aus Italien sucht, muss schon genau hinschauen. 1905, einmal willkürlich herausgegriffen, kamen 24.636 Gäste aus Europa: 19.199 aus Deutschland, 3.129 aus Russland. Aus England trafen 867 Besucher ein, aus Österreich 537, aus den Niederlanden 121. Italien kam da- mals nur auf den 11. Platz mit 47 Gästeankünften. Die Zahlen aus anderen Jahren sind vergleichbar. Das Angebot an Kurbädern in der Heimat war den Italienern offenbar ausreichend.
Herr Joachim Rossini
Und Musiker, vor allem Komponisten? Da landet man bei Gioachino Rossini. Der verbrachte im Sommer 1856 auf Anweisung seines Arztes vier Wochen in Kissingen, um Linderung einer Gonorrhöe zu suchen. In der Kurliste ist zu lesen: »Herr Joachim Rossini, Ritter mehrerer hoher Orden mit Gemahlin und Bedienung aus Rom. Personenzahl 4, Wohnung Adam Hailmann«. Die Wohnung befand sich im heutigen Haus Collard direkt gegenüber dem damals noch nicht errichteten Regentenbau.
Eine kleine Gedenktafel erinnert an den Aufenthalt. Geheilt wurde Rossini damals nicht, aber er fand seine Lust am Komponieren wieder. Dies dokumentiert sich nicht nur in drei Visitenkarten, auf die er ein paar Takte gekritzelt hat und die erhalten sind. Er komponierte auch eines seiner berühmtesten Klavierlieder, »Mi lagneró tacendo« nach einem Text von Pietro Metastasio.
Familienbande
Ein Name fällt noch auf: »Prinz Ludwig von Bourbon-Sizilien, Graf von Trani und Prinz des Königreiches beider Sizilien mit Gemahlin und Bedienung«. Der Prinz, 1838 in Neapel geboren, ist für die Geschichte Kissingens ohne größere Bedeutung. Wohl aber seine »Gemahlin«, die eine kleine, etwas kuriose Beziehung herstellen lässt, nachdem der Kissinger Sommer 2022 dem Kultur- und Musikraum der k.u.k.-Monarchie gewidmet war: Herzogin Mathilde Ludovika in Bayern stammte aus der Linie der Herzöge in Bayern des Hauses Wittelsbach und wurde durch Heirat Prinzessin von Bourbon-Sizilien. Sie war eine Schwester der Kaiserin Elisabeth (Sisi) und Schwägerin von Kaiser Franz Joseph I. Mathilde erhielt in Kissingen übrigens Besuch von ihrer Schwester Maria. Diese heiratete 1859 den Bruder ihres anderen Schwagers, Ferdinand I., und wurde so Königin beider Sizilien. So eng können Familienbande sein ...
Natürlich ist Italien kein ganz neuer Gast beim Kissinger Sommer. Das Land mit seiner Musik war schon einmal Schwerpunktland. Aber es präsentierte sich vor allem auf dem Gebiet der Oper, in konzertanten Fassungen oder Arienabenden. Dieses Jahr gesellt sich auf vielfältigste Weise »La Dolce Vita« dazu. Lassen Sie sich überraschen und einfangen!