Berlin war, Paris kommt
Fast fünf Sommerwochen lang gastiert Frankreich in Franken. Der Berliner Kurt Tucholsky verkündete einst ein wirksames Rezept für gute Laune: »…nur einmal auf dem Buhlewar, nur einmal in Paris!« In Bad Kissingen kann man nun die Welt- und Kulturstadt nicht nur en passant, sondern ganz intensiv erleben, in all ihrer Vielfalt – so, wie man es den Franzosen als kulinarischen Genießern nachsagt: viele Gänge, von allem etwas (Feines
natürlich) – und immer mit Stil. Wer mag, kann sich dabei durch vier Jahrhunderte französischer Kulturgeschichte schlemmen: von den Barockmeistern mit ihrem launigen Esprit über die Romantiker, die vom süßen Liebeszauber bis zum finsteren Schauer alle Emotionen bedienten, über die Klangzauberer des frühen 20. Jahrhunderts bis zu den jungen Komponisten der Gegenwart, die mit neuen, frischen Tönen begeistern: So schön kann Moderne klingen! Man kann dabei durch alle Genres streifen: Von der Kleinkunst bis zur großen Konzertgala, vom Chanson- bis zum Opernabend ist alles vertreten, exquisite Raritäten inklusive.
Am Abend ist man mit der Seele noch an der Seine, am Morgen wacht man in der Stadt an der Fränkischen Saale auf – und hat das sichere Gefühl: Es passt!
Bestbesetzung
Und alles wird in Bestbesetzung geboten – mit Orchestern, Ensembles, Solisten, Artisten. Das Orchestre Philharmonique de Radio France eröffnet unter der Leitung von Mikko Franck, es gehört zu den verierten, stilsicheren der Grande Nation. Experimentierfreudig geschichtsbewusste Ensembles komplettieren das Bild. Das Orchester Les Siècles spielt alle Werke auf Instrumenten aus deren Entstehungszeit. Der Zauber des Originalklangs wirkt so unmittelbar; man wird in die Musik und ihre Ursprungsepoche förmlich hineingezogen. An die Goldenen Zeiten kurz vor der Französischen Revolution erinnert das Concert de la Loge. Es nannte sich ursprünglich »Concert de la Loge Olympique« wie sein Vorbild, das in den 1780er-Jahren in Sachen Klangkultur und künstlerischem Bürgerengagement die Maßstäbe in Europa setzte. Für sie komponieren zu können, galt als das große Los; Haydn zog es mehrfach. Von ihrem Ideal aus erarbeitet sich das heutige Loge-Orchester das Repertoire von Klassik und Romantik. Durch das Nationale Olympische Komitee wurde es gezwungen, »Olympique« aus seinem Namen zu streichen: Sportfunktionäre reklamierten den antiken Ehrentitel in geschichtsvergessener Arroganz als Marke allein für sich.
Für ihr Kissinger Programm kooperieren die musikalischen Olympier mit einer Tanzgruppe; in Frankreich schätzt man es seit jeher, wenn sich die Künste zu großer Wirkung zusammentun. William Christie, der frankophile Amerikaner, beherzigte dies, als er 1979 in Caen, nahe an der Kanalküste gelegen, sein Ensemble Les Arts Florissants mit Virtuosinnen der Stimmen und der Instrumente gründete und so von der Kammer- über die Orchestermusik bis zu Oper und Oratorium alles realisieren konnte, was das barockaffine Herz bewegt. Er kommt mit einem Werk des Komponisten, der von jenseits des Kanals auf die französische Liebe zu Pracht und Emotionen antwortete: Georg Friedrich Händel, Wahl-Brite aus Halle an der Saale.
Der Jubilar: Maurice Ravel
Im Defilee der Komponistinnen und Komponisten von Jean-Philippe Rameau bis Camille Pépin erhält Maurice Ravel als Jubilar des Jahres 2025 einen Vorzugsplatz. Der Klangmagier, 1875 nahe der spanischen Grenze geboren, ist in Bad Kissingen mit seinen großen Werken vertreten: mit den gefühl- und temperamentvollen Liebeserklärungen an den Wiener Walzer und der verführerischen Musik zu den Amouren von Daphnis und Chloe, mit den musikalischen Märchenbildern der »Mutter-Gans«-Suite (Ravel war ein Freund der Kinder) und dem Klavierkonzert, in dem er seine Begeisterung für den Jazz auslebt, aber auch mit seiner Kammermusik, die ihn wiederum mit ganz anderen Qualitäten zeigt. Ihm zur Seite sein Bruder (und Rivale) im Geist des Impressionismus, Claude Debussy – aber auch der »große Alte«, der beiden vormachte, wie man mit leichter Hand Dramatisches in Töne setzt, exotische Farben wirkungsvoll mischt und virtuos präsentiert, und der mit seinem »Karneval der Tiere« ein Glanzstück musikalischer Erzählkunst schuf: Camille Saint-Saëns. Gabriel Fauré wiederum war sein Schüler – ein Meister der Kammer- und Vokalmusik; so tritt er auch in Bad Kissingen in Erscheinung.
Die ganze Vielfalt aber wäre nicht denkbar ohne den, der die romantische Welle in Frankreich ins Rollen brachte: Hector Berlioz. In der »Symphonie fantastique« trug er seine Shakespeare- und Beethoven-Begeisterung aus; er machte aus ihr ein packendes Drama in Tönen, denn er wusste: Das französische Publikum ist theaterbesessen. Die Oper galt als Göttin unter den Künsten, ob sie sich nun als Tragödin in der Grand Opéra oder im frech-frivolen Outfit in der Opéra comique präsentierte. Und Musiktheater ohne Tanz war nur eine halbe Sache. Der Kissinger Sommer bietet gleich mehrere Kostproben dieses Kunst- und Lebensgefühls. Es geht auf den Sonnenkönig zurück. Wo sonst gab es einen Regenten, der sich die Bühnenkunst des Nachbarlandes an den Hof holte und selbst in seiner Ballettkompanie mittanzte?
Das Königtum wurde abgeschafft. Das kulturelle Lebensgefühl blieb. Paris bewahrte sich ein weites Herz. Zwischen erhabenen und unterhaltenden, feierlichen und aufmüpfigen Kunstformen zog man keine starren Grenzen, im Gegenteil: Man liebte die mit kleinen Spitzen garnierten Dialoge zwischen den Genres. Außerdem: Ein gutes Variété- oder Revue-Programm will nicht weniger perfekt durchgestaltet sein als ein Opernabend. Wer Kunst sucht, wird sie hier wie dort finden.
Europa in Paris
Paris empfing die Menschen mit offenen Armen. Ganz Europa war dort vertreten. Es gab eine polnische, eine tschechische, eine russische, italienische und rumänische Community, Exilanten aus Deutschland stellten immer wieder eine große Gruppe. Jahrzehntelang schien es, als läge die Heimat der spanischen Musik an der Seine: Albéniz, de Falla, Granados und andere – alle lebten sie über Jahre in Paris. Die bedeutendste französische Oper spielt in Spanien: Bizets »Carmen«. Der Spanien-Hype, dem auch Debussy, Ravel und Chabrier huldigten, zog Kreise weit über Frankreich hinaus – bis nach St. Petersburg. Deshalb: Wenn Frankreich zu Gast ist, klingt Europa mit.
Paris bewahrte sich ein weites Herz. Zwischen erhabenen und unterhaltenden, feierlichen und aufmüpfigen Kunstformen zog man keine starren Grenzen.
In Bad Kissingen ist das zu spüren – am Programm und an den Künstlerinnen und Künstlern. Orchester kommen in Geschwistergruppen: die Bamberger Symphoniker und die Tschechische Philharmonie haben eine gemeinsame Vorgeschichte; in Kissingen sind beide gern und oft zu Gast, diesmal unter Dalia Stasevska, Manfred Honeck und Tomáš Netopil. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, die Symphonie-Orchester des Westdeutschen und des Bayerischen Rundfunks sowie das Münchner Rundfunkorchester haben ihre Wendigkeit und Präzision als Rundfunkensembles erworben – wie das Orchestre Philharmonique de Radio France; sie treten mit François Leleux, Cornelius Meister, Cristian Măcelaru, Ernst Theis und Franz Welser-Möst auf die Bühne. Mit dem Orchestre Philharmonique Royal de Liège unter Lionel Bringuier kommt ein Ensemble aus der Stadt, in der zwei bedeutende französische Musiker aufwuchsen: César Franck und Jacques Brel; das Royal Philharmonic Orchestra aus London entführt mit Anne-Sophie Mutter in die Klangwelt des Films; die großen Klassiker der Violinliteratur überlässt die Grande Dame ihren virtuosen Nachfolgerinnen auf den internationalen Konzertpodien: Isabelle Faust (Beethoven), Hilary Hahn (Brahms) und Vilde Frang (Schumann). Am Violoncello glänzen zudem Johannes Moser (Dvořák) und Alisa Weilerstein (Saint-Saëns).
Dass Bad Kissingen in Sachen Klavier zu den Top-Adressen zählt, beweist nicht nur der jährliche KlavierOlymp, sondern auch die Gala der Pianisten, die mit oder ohne Orchester beim 39. Kissinger Sommer auftreten: Grigory Sokolov und Igor Levit, Jean-Yves Thibaudet, Pierre-Laurent Aimard, Daniil Trifonov, Lucas und Arthur Jussen, Bertrand Chamayou, dazu Jean Rondeau, der als Cembalist derzeit international Furore macht, und Olivier Latry, der die große französische Orgeltradition mitbringt. Mit dem Fauré Quartett, dem Quatuor Ébène aus Paris und dem Leonkoro Quartett aus Berlin gastieren drei Ensembles, die sich innerhalb kürzester Zeit in der Spitzengruppe ihres Fachs festsetzen konnten.
Deutschland und Frankreich
Deutschland – Frankreich: das war eine besondere, oft doppelbödige Geschichte. Politische Erbfeinde nannte man sie, und doch waren sie kulturell eng verbandelt: An den kultivierten Höfen Deutschlands wurde französisch gesprochen. Die deutsche Kabarett- und Revue-Szene ist eine Tochter der französischen. Frankreich wiederum hatte seine Wagner-, Goethe- und Beethoven-Verehrer. 1961 kam der Film Aimez-vous Brahms? (Lieben Sie Brahms?)
in die Kinos. Der junge Anthony Perkins verführt darin die reifere Ingrid Bergman, indem er sie in ein Brahms-Konzert mitnimmt: Eine eigenwillige Anbahnung.
Zumal Brahms kein Freund der Franzosen war – bis zu seiner Begegnung mit Claude Debussy, sagt eine Anekdote. Der junge Franzose sprach in Wien bei Brahms vor und wurde abgewiesen. Als sich beide dann doch zum Essen trafen, schwieg Brahms lange, kommentierte dann den französischen Sekt mit Goethe’schen »Faust«-Versen: »Ein echter deutscher Mann mag keine Franzen leiden; / Doch ihre Weine trinkt er gern«; geriet dann über Bizets »Carmen« ins Schwärmen und lud Debussy zu einer Vorstellung am nächsten Abend ein. Nach ihr umarmte er den jungen Gast, entschuldigte sich für seine Ruppigkeit und wünschte ihm alles Gute. Das Eis war gebrochen. Debussy wurde danach kein Brahms-Verehrer, aber die schärfsten Pfeile seiner Kritik behielt er sich für andere vor. »Aimez-vous Brahms?«: Der Kissinger Sommer bietet viele Möglichkeiten, die Frage zu beantworten: symphonische, kammermusikalische und solistische.
Größe der kleinen Form
Geht es um Paris, dann darf das Genre nicht fehlen, das nur bei seinem französischen Namen genannt werden kann: La Chanson, die Kunst der Piaf, von Brel und all der vielen von Colette bis Gréco, Aznavour und Yves Montand. Dominique Horwitz eröffnet die vierte Festspielwoche mit einem Jacques-Brel-Abend – den gebürtigen Belgier hat Kultur-Frankreich ebenso adoptiert wie 100 Jahre zuvor seinen Komponisten-Landsmann César Franck. Sabine Devieilhe, längst schon ein Fixstern am Sopranistinnen-Himmel, spielt in ihrem szenischen Chanson-Rezital mit den Grenzen zwischen U und E und erinnert daran, dass Paris die zweite Heimat für Jazz und Musical war.
Édith Piaf, die Unvergessliche, erhält eine doppelte Hommage: durch Katharine Mehrling, die von ihrer Kurt-Weill-Revue im vergangenen Jahr in bester Erinnerung ist, und im Abschlusskonzert, mit dem sich der Kissinger Sommer rundet. Sinnbildlich spannt sich so der Bogen von den großen Klassikern des Eröffnungskonzerts zur populären Größe der kleinen Formen: Kosmos Paris.
Auch zu dieser besonderen Gesangskunst bietet Bad Kissingen kostbare Pendants: im Kunstlied, das für den deutschen Sprachraum so typisch ist wie das Chanson für den französischen, und durch das Instrument, das in Frankreich eine ungleich größere Rolle spielt als hierzulande. Christian Gerhaher und Gerold Huber rahmen ihren Schumann-Liederabend mit Zyklen nach Versen des deutschen Dichters, dem Paris zur Wahlheimat wurde: Heinrich Heine. Xavier de Maistre, sensibler Virtuose des Harfenspiels, führt mit Martina Gedeck einen musikalisch-lyrischen Dialog über den Zauber der Mondnacht.
Nächtliche Amüsements der verruchten und der hedonistischen Spielart verheißen zudem reizvolle Unterhaltung: Mit einer Burlesque-Revue kommt die frivole Welt der Pariser Cabarets auf die Bühne, und der zweite Festival-Rave bringt das Kurtheater mit Techno-Klängen des Pariser Undergrounds bis in die Morgendämmerung zum Brodeln.
Weltstadtflair weht durch Bad Kissingen – mit großen Gesten und kleinen Preziosen. Ist es nicht eine schöne Vorstellung? Am Abend ist man mit der Seele noch an der Seine, am Morgen wacht man in der Stadt an der Fränkischen Saale auf – und hat das sichere Gefühl: Es passt!