Der Kissinger Sommer hat sich seit seiner Premiere 1986 dank seines künstlerischen Niveaus zu einem international beachteten Musikfestival entwickelt. Man übersieht leicht, dass es ursprünglich nicht das Bestreben war, die Welt mit musikalischen Spitzenleistungen zu versorgen, sondern dass es vor allem wirtschaftspolitische Aspekte waren, die das Festival auf den Weg brachten. Das ehemalige »Weltbad Kissingen“ hatte durch die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und durch seine unmittelbare Nachbarschaft zum Eisernen Vorhang sein halbes Hinterland und viele kulturelle Kontakte verloren.
Die Tradition der Musikpflege war zwar abgerissen, aber die prächtigen Säle waren noch da und riefen nach adäquater Nutzung. Es dauerte bis 1984, als der damalige Kissinger Oberbürgermeister Georg Straus mit dem Wahlkreisabgeordnetem Eduard Lintner und einer Delegation nach Bonn fuhr. Das Lockwort hieß »Zonenrandförderung“ – Fördermittel des Innerdeutschen und des Außenministeriums zur Stärkung strukturschwacher Gemeinden entlang der Grenze. Für die Kissinger ging es zunächst vorrangig um die Füllung eines Belegungsloches in der Hotellerie in den Sommermonaten. Dass das zur Geburt eines international renommierten Festivals führen würde, hätte damals niemand gedacht.
»Europa in Kultur«
Aber es wurde, nach einem eher schüchternen Start, sehr bald zum Erfolgsmodell. Nicht nur, weil die Besucher und Musiker die Spielstätten und das etwas verträumte, sehr persönliche Ambiente des Kurstädtchens an der Saale liebten. Sondern auch, weil die Verantwortlichen in Kari Kahl-Wolfsjäger eine Gründungsintendantin gefunden hatten, die über ausgezeichnete Kontakte zur internationalen musikalischen Elite verfügte und die Künstler nicht überreden musste, zu einem neuen Festival zu kommen.
Der Slogan »Europa in Kultur« wurde zum Leitmotiv.
Der Slogan »Europa in Kultur« wurde zum Leitmotiv. Es sollte an der Schnittstelle der beiden Machtblöcke Brücken bauen und Türen öffnen. Eine sinnvolle, wenn auch nicht einfache Aufgabe, denn der Umgang mit den Staatsagenturen des Ostblocks kostete Nerven. Jedes Jahr war einem anderen Land der Schwerpunkt gewidmet: Auf Ungarn folgten Polen, die Sowjetunion und die Tschechoslowakei. Die DDR wurde jedes Jahr mitgedacht und mitbedacht.
Die Begegnung der Künstler aus Ost und West erwies sich als außerordentlich spannend und nicht ganz einfach; sie mussten nach Jahren der Abschottung erst eine gemeinsame Sprache finden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde das Festival, nunmehr in der Mitte Europas, zum Treffpunkt der Musikkulturen aus Ost und West. Und es wurde zu einem viereinhalbwöchigen Kulturereignis.
Von der Klangwerkstatt bis zum KlavierOlymp
Auch wenn das programmatische Schwergewicht des Festivals auf der gut zu vermarktenden Musik der Romantik lag, spielte die Präsentation der Neuen Musik eine wichtige Rolle. Uraufführungen fanden vor allem in den ersten Jahren statt – natürlich nicht immer zur Freude aller. Aber es gab auch kammermusikalische Reihen wie die »KlangWerkstatt« oder, seit 2006, die einzigartige »LiederWerkstatt«. Werke der jüngsten Vergangenheit gehören auch zum Pflichtprogramm der sechs jungen Pianistinnen und Pianisten, die jedes Jahr im Herbst zum »Kissinger KlavierOlymp« eingeladen werden. Wie ein »Gotha der internationalen Musikszene« liest sich die Aufstellung der großen Namen, die beim Kissinger Sommer bisher zu Gast waren. Bei den Orchestern hat sich so etwas wie ein harter Kern herausgebildet: Bamberger Symphoniker, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, BBC Symphony Orchestra, Tschechische Philharmonie und andere. Aber es waren auch Gelegenheitsgäste da wie das Athener Staatsorchester oder das China Philharmonic Orchestra. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen fungierte in den letzten fünf Jahren als Festivalorchester des Kissinger Sommers.
Vom Nachwuchssprungbrett zur Pultelite
Auch am Pult und auf dem Podium gab sich die Elite die Klinke in die Hand, mit Dirigenten – und in den letzten Jahren zunehmend Dirigentinnen – wie Herbert Blomstedt, Mariss Jansons, Jiří Bělohlávek, Paavo Järvi, Daniel Harding, Andris Nelsons, Christoph Eschenbach, Kent Nagano, Lorin Maazel, Lawrence Foster, Yannick Nézet-Séguin, Mirga Gražinytė-Tyla, Karina Canellakis oder in diesem Jahr Joana Mallwitz. Viele junge Künstler starteten ihre Karriere auch mit Konzerten in Bad Kissingen, wie etwa Frank Peter Zimmermann, Alban Gerhardt, Baiba Skride, Alisa Weilerstein, Igor Levit und Ruth Ziesak. Aber auch die Etablierten kamen immer gerne: Cecilia Bartoli, Grigory Sokolov, Sir András Schiff, Diana Damrau, Lang Lang und viele andere. Swjatoslaw Richter sagte 1994 sogar Schleswig-Holstein ab, um in Bad Kissingen spielen zu können. Die Mischung aus etablierterfahren und jung-hochtalentiert hat jedes Jahr ausgezeichnet funktioniert.
Die Mischung aus etablierterfahren und jung-hochtalentiert hat jedes Jahr ausgezeichnet funktioniert.
Wegbereiter
Selbstredend stehen hinter diesen Erfolgen auch Namen. Einer vor allem: Kari Kahl-Wolfsjäger. In ihrer 30-jährigen Amtszeit gelang es, das Festival mit massentauglichen Programmen und attraktiven Musikern für ein wachsendes Publikum international zu positionieren und zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor der Stadt zu machen. Auf der Basis der bewährten Klassik und Romantik schuf sie Angebote von großer Bandbreite bis zur Gegenwart. Ihr Nachfolger wurde 2017 Tilman Schlömp. Der Musikwissenschaftler übernahm Bewährtes, brachte aber auch neue Konzepte wie an bestimmten Jahren festgemachte Entwicklungen und Wendepunkte ein. Zudem führte er erfolgreich Education-Projekte ein. Schlömp hatte das große Pech, dass Corona seine gesamte Planung für 2020 aufgrund der Festivalabsage zunichtemachte. Mit dem Programm des Festivals 2022 unter dem Motto »Wien. Budapest. Prag. Bad Kissingen« übernahm Alexander Steinbeis als dritter Intendant die Geschicke des Kissinger Sommers und brachte Formate wie kostenfreie Prélude-Konzerte und den »Symphonic Mob« nach Bad Kissingen.
Freunde und Partner
Bis heute ist die Stadt Bad Kissingen Träger und damit Hauptfinanzier des Festivals. Neben bedeutenden Fördersummen des Freistaats Bayern, des Bezirks Unterfranken und des Landkreises Bad Kissingen, ist der mitgliederstarke »Förderverein Kissinger Sommer« wichtigster Einzelsponsor. Ohne die großzügige Unterstützung dieser Freunde und Partner wäre der Kissinger Sommer nicht das, was er heute ist.