Das Motto
Bevor der Weltgeist des Kinos auf der »Nouvelle Vague« nach Frankreich segelte, sprach er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einige Jahre fließend italienisch; und auch später hat er diese Sprache nie wieder ganz verlernt. Der Kissinger Sommer des Jahres 2023 leiht sich sein Motto bei einem der größten italienischen Filmklassiker aus: »La dolce vita«. Als Federico Fellini 1960 den Film herausbrachte, befand sich das italienische Kino auf dem Höhepunkt seiner Weltgeltung. Die Achse Italien-Hollywood wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in beiden Richtungen ausgiebig bereist: Fellini, Anna Magnani und Sophia Loren gewannen Oscars, Hollywood-Stars wie Burt Lancaster und Robert de Niro tauchten in Werken von Visconti und Bertolucci auf. In »La dolce vita« verbinden sich eindrucksvollste Aufnahmen von Schauplätzen der ewigen Stadt Rom mit Phänomenen der Moderne. Gerade weil sie die Schattenseiten der zeitgenössischen »condition italienne« nicht aussparten, erlebte das internationale Publikum in Filmen wie »La dolce vita« Italien mit dem ganzen Reichtum seiner kulturellen Traditionen, mit dem Reiz, der auch in seinen Widersprüchen liegt, mit seiner fast unwirklichen Schönheit.
Auch ein Musikfestival, das Italien als Schwerpunkt wählt, kann in jeder Hinsicht aus dem Vollen schöpfen. Neben Kompositionen von Monteverdi, Vivaldi, Rossini, Verdi, Puccini oder Respighi präsentiert der Kissinger Sommer auch Musik, die von der Begegnung mit dem Land inspiriert worden ist. Schließlich ist die Sehnsucht nach dem Süden, die gerade in der deutschen Kulturgeschichte von Goethe bis zur Toskana-Fraktion tiefe Spuren hinterlassen hat, selbst eines der charakteristischsten Phänomene, die mit Italien verbunden werden.
Italien beim Kissinger Sommer
Die direkteste Verbindung zwischen Film und Musik stiftet – offensichtlich – die Filmmusik. Das Münchner Rundfunkorchester präsentiert Ausschnitte aus einigen der großartigsten Soundtracks der Filmgeschichte; unter anderem natürlich Musik zu Fellinis »La dolce vita« von Nino Rota, der mit seinen Kompositionen auch zum überwältigenden Erfolg der Godfather-Trilogie beitrug. Ihre Fähigkeit, unübertrefflich eingängige Melodien zu erfinden, haben Rota und der nicht weniger berühmte Ennio Morricone offenbar von ihren Landsleuten Verdi und Puccini geerbt; wie der Film als audio-visuelles Medium des Geschichten-Erzählens ja überhaupt auch in der Tradition der Oper steht. Und Italien ist natürlich das Opernland schlechthin.
Das Musiktheater begegnet dem Festival-Publikum gleich im Eröffnungskonzert, einer Gala mit Höhepunkten aus dem romantischen Repertoire. Wie das Orchestra Sinfonica di Milano stammen auch Dirigent Vincenzo Milletarì, die Sopranistin Carmela Remigio und der Tenor Freddie De Tommaso aus dem Mutterland der Oper. Bühnenflair strahlt Anna Prohaska dank ihrer Fähigkeit zur vokalen und darstellerischen Identifikation auch in ihren Konzertprogrammen aus. Diesmal gewährt sie, auch in Werken italienischer Barockkomponisten, einen Einblick in die Gefühlswelten der Königinnen Kleopatra und Dido. Eine unterhaltsame musikalische Zeitreise mit Jazz-Anklängen verspricht das Open-Air-Konzert auf Schloss Aschach, bei dem die Sopranistin Sua Jo und das Blechbläserquintett des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin die Opernwelt von Monteverdi, Händel und Verdi auf ihre eigene Weise erkunden.
Ein Musikfestival, das Italien als Schwerpunkt wählt, kann in jeder Hinsicht aus dem Vollen schöpfen.
Auch die Ouvertüren Rossinis, von denen 2023 mehrere in Bad Kissingen zu hören sind, haben längst als virtuose Parade- und Eröffnungsstücke auf die Konzertbühne gefunden. Dass die Opernkomponisten Rossini, Bellini und Donizetti auch Klavierlieder geschrieben haben, ist in zwei Programmen zu entdecken: Die Mezzosopranistin Giuseppina Bridelli bringt dabei in den Rossini-Saal auch eine Vertonung von Metastasios »Mi lagnerò tacendo« mit, zu der sich Rossini bei einem seiner Kuraufenthalte in Bad Kissingen inspirieren ließ. Lieder der drei Belcanto-Komponisten vervollständigen in diesem Jahr auch das Programm der an zwei Terminen ausgerichteten Liederwerkstatt, die sich von Anfang an für die Liedkunst in Vergangenheit und Gegenwart engagierte und erneut mit sechs Uraufführungen aufwarten kann.
Auch die zentralen Gattungen der deutsch-österreichischen Instrumentalmusik seit der Wiener Klassik – Symphonie, Solo-Konzert und Sonate – sind ohne die Barockmusik Italiens nicht vorstellbar. Für italienische Komponisten spielten sie im 19. Jahrhundert allerdings keine große Rolle. Die berühmteste aller »italienischen« Symphonien, die im Programm des Kissinger Sommers nicht fehlen darf, hat tatsächlich der Deutsche Mendelssohn als seine Vierte geschrieben. Bedeutende Instrumentalwerke aus Italien findet man eher in der alten Musik, dann wieder seit der Spätromantik. In die Zeit des Renaissance-Malers Sandro Botticelli entführt die auf historischen Instrumenten musizierende Capella de la Torre. Und auch Italien selbst verfügt über exzellente Originalklang-Ensembles, darunter der in Mailand ansässige Klangkörper Il Giardino Armonico, dessen Mitglieder mit Anna Prohaska auftreten. In Andrea Marcon, dem musikalischen Leiter des Venice Baroque Orchestra, haben Vivaldi und seine Zeitgenossen einen begeisterten und begeisternden Fürsprecher gefunden. Mit mehreren Werken, die durch ihren Farbenreichtum bestechen, wird die italienische Orchestermusik des 20. Jahrhunderts von Ottorino Respighi repräsentiert. Dass in Italien auch eine vitale Szene für neue Musik entstand, beweisen ein Duo-Konzert des fulminanten Trompeters Simon Höfele und des vielseitigen Pianisten Frank Dupree sowie ein ungewöhnlicher Abend mit Mitgliedern des Rundfunkchors Berlin und Werken der Avantgardisten Giacinto Scelsi und Luigi Nono.
Die Faszination, die Italien auf auswärtige Komponisten ausübt, wird besonders schön durch das vom Quatuor Modigliani interpretierte Streichsextet »Souvenir de Florence« von Tschaikowsky zum Ausdruck gebracht. Der üblicherweise tragisch gestimmte Komponist ließ sich von einem Toskana-Aufenthalt zu einem seiner heitersten Werke animieren.
Schließlich zeigen Auftritte der jungen Pianistin Beatrice Rana, deren Spiel Vergleiche mit Legenden ihrer Profession nicht scheuen muss, der charismatischen Geigerin Francesca Dego, des Saxophonisten Luigi Grasso, der ein italienisches Programm für die NDR Bigband zusammengestellt hat, und des virtuosen Schlagzeugers Simone Rubino, dass auch in der Gegenwart einige der originellsten und versiertesten Instrumentalist*innen aus Italien kommen.
Fixsterne der Klassik:
Die Solistinnen und Solisten des Festivals
Ein Anlass zur Freude ist das Konzert mit der phänomenalen Anne-Sophie Mutter, die zum ersten Mal beim Kissinger Sommer auftritt und an der Seite der jungen Musikerinnen und Musiker ihres Ensembles Mutter’s Virtuosi konzertiert. Zu den ganz wenigen Geigerinnen, die eine ähnlich große Verehrung genießen, zählt Lisa Batiashvili, die ebenso wie ihre wunderbare Kollegin Veronika Eberle als Kammermusikerin in Erscheinung tritt. Die hochbegabte und -gelobte María Dueñas komplettiert mit einem anspruchsvollen Rezital die Riege der Geigerinnen. Mit Maximilian Hornung, der den Solopart in einem Haydn-Konzert übernimmt, Steven Isserlis, der an der Seite von Eberle spielt, Daniel Müller-Schott, der einen Sonaten-Abend gestaltet, und dem passionierten Kammermusiker Julian Steckel begrüßt das Festival absolute Ausnahme-Cellisten. Bariton Benjamin Appl ist gemeinsam mit dem österreichischen Schauspieler Harald Krassnitzer in einem ungewöhnlichen Konzert zu erleben, das Schuberts »Winterreise« mit Berichten über eine spektakuläre Nordpolexpedition des 19. Jahrhunderts verbindet. Publikumsmagneten sind auch die Klassik- wie Jazz-erfahrene englische Saxophonistin Jess Gillam und der israelische Mandolinist Avi Avital, der sich mit der nicht nur für ihre Mozart-Interpretationen bekannten Academy of St Martin in the Fields zusammengetan hat.
Zu den Identitätsmerkmalen des Kissinger Sommers gehören schon immer die Konzerte weltberühmter Pianistinnen und Pianisten. 2023 darf sich das Publikum wieder auf den Tastenmagier Grigory Sokolov freuen, der dem Festival seit langem die Treue hält. Leif Ove Andsnes, Bertrand Chamayou und Khatia Buniatishvili machen die Veranstaltungsreihe zu einem Gipfeltreffen der Virtuosen, zu dem auch drei Teilnehmer*innen des renommierten KlavierOlymp-Wettbewerbs beitragen. Und im c-Moll-Klavierkonzert wird sich zeigen, dass heute kaum jemand so schön und einfühlsam Mozart spielt wie der polnische Pianist Rafał Blechacz.
Öffnung und Innovation mit ungewöhnlichen Formaten gehören auch 2023 zum Kissinger Sommer – mit dem Klavier-Elektronik-Duo der »Grandbrothers«, der Slam-Poetin Fee Brembeck im Austausch mit Kammermusik, den abwechslungsreichen Wandelkonzerten und den kostenlosen »Prélude«-Konzerten.
Internationale Symphonieorchester
Auch für das Jahr 2023 konnten große Orchester für Konzerte im Max-Littmann-Saal mit seiner hervorragenden Akustik gewonnen werden. Drei Klangkörper, die dem Festival seit vielen Jahren eng verbunden sind, gastieren in diesem Sommer mit jeweils zwei Programmen. Das Deutsche Symphonie- Orchester Berlin (DSO), das auch zum »Symphonic Mob« aufspielt, beweist unter der Leitung seines Ehrendirigenten Kent Nagano in zwei Konzerten mit italienischer, österreichischer, französischer und russischer Musik seine stilistische Wandlungsfähigkeit. Große romantische Symphonien haben die Bamberger Symphoniker im musikalischen Reisegepäck; am Dirigenten- Pult stehen diesmal Manfred Honeck und Herbert Blomstedt, der auch in seinem zehnten Lebensjahrzehnt durch Vitalität und Leidenschaft bezaubert. Einen Konzertabend widmen die Tschechische Philharmonie und ihr Chefdirigent Semyon Bychkov unter anderem der »Italienischen« von Mendelssohn, einen zweiten Antonín Dvořák. Bruckners Fünfte auf höchstem Niveau versprechen Christian Thielemann und das formidable Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die jungen Musiker*innen der Baltic Sea Philharmonic, die in einem von visuellen Effekten begleiteten Konzert unter der Leitung ihres Gründers Kristjan Järvi unter anderem Strawinskys »Feuervogel« aufführen, meistern die eindrucksvolle Orchesterkunst des Auswendig-Spielens. Das WDR Sinfonieorchester gestaltet mit Dirigent Andrew Manze ein Programm mit Werken aus Italien, Deutschland und Russland.
Der Vorhang des Kissinger Sommers schließt sich dann mit den sehnsuchtsvollen Klängen aus Rachmaninoffs Zweitem Klavierkonzert und Rimski-Korsakows Symphonischer Dichtung »Sheherazade«. Zum Abscheid also noch einmal »La dolce Musica«. Für sie verbürgen sich, passend zum Festival-Motto, mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia und Gianandrea Noseda einer der besten Klangkörper Italiens und einer der inter national erfolgreichsten italienischen Dirigenten.